Natürlich finden sich auch bei sonstigen Reptilien und Säugetieren Anomalien und pathologische Erscheinungsbilder. Nicht immer läßt sich die Ursache so klar herleiten wie bei dieser Wasserschildkröte (Abb. 1). Die Schildkröte ermahnt uns sehr eindringlich, mit unserem Plastikmüll doch sehr viel verantwortungsvoller umzugehen.
Bei dem Hauskaninchen in Abb. 2, einer Aufnahme mit Hilfe der Computertomographie, sind die Schneide- und Stiftzähne des Oberkiefers unkontrolliert weitergewachsen. Die Auswirkungen können bei ähnlicher Krankheit noch wesentlich extremer sein als in dem hier gezeigten Schädel.
In Abbildung 3 ist ein weiteres Hauskaninchen aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, bei dem das ungehemmte Wachstum der oberen und unteren Schneidezähne noch erheblicher fortgeschritten ist. Ursache für eine solch pathologische Form des Zahnwachstums kann der fehlende Kontakt der Zähne zueinander sein, was zu einem Stopp der zeitlebens wachsenden Zähne führen würde.
Sehr viel spektakulärer sind Mißbildungen, wie sie bei Kälbern nicht selten vorkommen. Zweiköpfige Kälber kommen in unterschiedlichsten Erscheinungsformen vor, manchmal sind die Köpfe getrennt vorhanden, innerhalb eines Tieres, manchmal sind die Köpfe mehr oder weniger verwachsen (Abb. 4 und 5). In seltenen Fällen sind beide Augen fast zu einem einzelnen zusammengeschoben, wie in Abb. 6 zu sehen ist, in 6A als Foto mit Fell, und in 6 als präparierter Schädel.
Die meisten Fotos der dargestellten Schädel und Skelette oben sind während eines Besuches im „Museum of Osteology“ in Orlando, Florida, USA, im Jahre 2017 von mir gemacht worden. Danke Jay Villemarette!!
Die pathologische Auffälligkeit der ‚Hyperdontie‘, einer ‚Zahnüberzahl‘, wurde bereits beim Schimpansen im Kapitel ‚Informationen/Impressionen / Allgemeines‘ angesprochen, wobei es sich beim Schimpansen nicht um dieses Phänomen gehandelt hat. Nur um noch einmal diese Ausprägung zu erläutern: Wenn diese zusätzlichen Zähne nicht Teil des Dauergebisses (‚echte Hyperdontie‘) sind, und die eigentliche Anzahl der Zähne durch Ziehen des Milchzahns (tritt oft bei Hunden und Katzen bei Eckzähnen auf) wieder ausgeglichen werden könnte, spricht man auch von einer ‚unechten oder temporären Hyperdontie‘, sonst von einer ‚echten Hyperdontie‘, wenn wirklich zusätzliche Zähne im Kiefer sitzen.
Auch beim Menschen sind Zähne, die ‚an der falschen Stelle‘ im Kiefer an unterschiedlichen Stellen ausbrechen‘, bekannt. Abb. 7 zeigt historische Beispiele genau dieses Phänomens im Oberkiefer einer Frau (19-20 Jahre alt, Abb. 7(b)) und eines Mannes (30 Jahre alt, Abb. 7 (c)) aus der Meckel‘schen Sammlung in Halle von 1877, hergestellt und präpariert im Übrigen von Hermann Welcker, der zu dieser Zeit das ‚Anatomische Institut der Universität Halle‘ leitete.
Mit Hilfe des Zahnarztes Dr. Andreas von der Lippe-Anacker (AvdL-A) vom Universitätsklinikum Halle konnten die einzelnen Zähne der beiden präparierten Gaumen (Abb. 7a, b, c) eindeutig zugeordnet (Abb. 7b‘ und c‘) werden. Im Fall von (b) handelt es sich tatsächlich um eine ‚unechte Hyperdontie‘, denn auf der linken Seite des Oberkiefers, auf der rechten Seite in den Abbildungen, ist aus dem Gaumen ein bleibender Eckzahn (C3D) ausgebrochen, direkt vor den Alveolen (Knochenfächern) der beiden Schneidezähne. Nach dem ersten Vorbackenzahn (P1D) steht in der eigentlichen Zahnreihe nach vorne der Milch-Eckzahn (C3L), der persistiert (bestehen bleibt) und gelblich/abgenutzt erscheint.
Auch im Fall von (c) auf der rechten Seite des Oberkiefers, auf der linken Seite in den Abbildungen, folgt dem stark zerstörten ersten Backzahn des Dauergebisses (M1D) der 2. Vorbackenzahn gaumenwärts und damit außerhalb der eigentlichen Zahnreihe (P2D). In der Reihe selbst ist nach dem Backenzahn der erste Vorbackenzahn erkennbar (P1D), gefolgt von dem persistierenden Milch-Backenzahn (M1L), gefolgt von dem Eckzahn des Dauergebisses (C3D) nach vorne. Eine weitere Besonderheit dieses Gaumens ist eine ‚Hypodontie‘, also eine Reduzierung der eigentlichen Zahn-Anzahl, da der zweite Schneidezahn (I2D) fehlt, er folgt der erste Schneidezahn (I1D) und es geht weiter mit den beiden Schneidezähnen der linken Seite (rechts in der Abbildung), Die Lücke ist trotz des fehlenden Schneidezahns gut geschlossen. Die eigentliche Mittellinie habe ich eingezeichnet, sie ist in Richtung Lücke geschlossen. AvdL-A nimmt an, dass der Bruch artifizieller Ursache sein dürfte und nicht das Zeichen einer Kiefergaumenspalte. Interessanterweise sind in (c) beide Weisheitszähne (M3D) ausgebildet, in (b) nicht!
Die Zahnformel beim Menschen (übrigens genau wie beim Schimpansen) lautet: I2-C1-P2-M3, wobei I: Incisivi, Schneidezähne (zwei in jedem Kiefer), C: Canini, Eckzähne (einer in jedem Kiefer), P: Prämolare, Vorbackenzähne (zwei in jedem Kiefer) und M: Molare, Backenzähne (drei in jedem Kiefer) bedeuten. ‚L‘ bezieht sich auf das Milchgebiß (lateinisch Dentes lactales), ‚D‘ auf das Dauergebiß. Darauf beziehen sich auch die eingezeichneten Zahn-Bezeichnungen. Der M3D ist der 3. bleibende Molar, also der Weisheitszahn.
Insgesamt tritt eine Hyperdontie (echt oder unecht) beim Menschen bei ein bis drei Prozent der Europäer und deren Nachkommen auf, häufiger läßt sich das allerdings in Asien beobachten. Ein Extrembeispiel ist der Fall eines 17 Jahre alten Inders, der mit starken Schwellungen im Unterkiefer ins Krankenhaus kam. Dort förderten die Zahnchirurgen Ungewöhnliches zutage: Sie holten mehr als 200 Zähne aus dem Kieferknochen des Jugendlichen. (siehe den ‚www.faz.net‘ Artikel unten bei ‚Literatur zum Thema‘, in dem auch die extrahierten Zähne zu sehen sind).
Bedeutung hat das ähnlich pathologische Auftreten der ‚unechten Hyperdontie‘ in Form von persistierenden Milchzähnen auch bei Haustieren. Es kommt wohl immer dann zum persistierenden Milchzahn, wenn auf die Wurzelspitze der Milchzähne kein oder nur ein ungenügender Druck ausgeübt wird (www.tierarzt-michling.de).
Im Internet lassen sich Dutzende von Info-Seiten von Tierärzten finden, welche das Problem zu erklären versuchen und ihre Hilfe zur Extraktion dieser Milchzähne (‚Zähne-Ziehen‘) anbieten (siehe ‚Literatur zum Thema‘). Abb. 8 und 9 zeigen zwei besonders schöne Beispiele dieser persistierenden Milch-Eckzähne, jeweils vor und nach der OP (Operation), einmal als Foto des Hundekiefers und einmal als Röntgenbild.
In diesem Zusammenhang sind auch Hauskatzen zu nennen, bei denen dies aber eher selten vorkommt. Sehr viel häufiger sind die Patienten Haushunde und hier vor allem kleine Rassen wie Malteser, Bologneser und Havaneser, aber auch Yorkie, Zwergpinscher, Chihuahua und andere Zwergrassen. Laut Tierarzt Rückert sollten „Welpenkäufer die oftmals nicht unbeträchtlichen Kosten der chirurgischen Entfernung solcher hartnäckigen Milchzähne besser gleich auf den Kaufpreis draufrechnen“ (www.tierarzt-rueckert.de), da es so häufig vorkommt. Die Extraktion eines solchen Milchzahnes ist auch als Video zu sehen (https://www.youtube.com/watch?v=9PnI64KMjyM (in english)), wer kein Problem mit etwas Blut hat…
Fazit der Tierärzte ist auf jeden Fall: „Persistierende Milchzähne müssen raus!“ (www.tierarzt-rueckert.de).
Außerdem: ‚Hunde, bei denen persistierende Canini auftreten, sollten nicht zur Zucht verwendet werden, da sie dieses Problem dominant an ihre Nachkommen vererben‘ (www.petdoctors.at). Daher hat die Hyperdontie durchaus auch wirtschaftliche Aspekte.
Eine Untersuchung von etwa 330 jungen Rotfüchsen in der Schweiz in den Jahren 1967-1971 (Lüps P. et al., 1972) zeigte bei einigen Füchsen ebenfalls die Präsenz des Dauer-Eckzahns neben dem Milcheckzahn (siehe Abbildung), ohne Verminderung der Caninusfunktion, wie Lüps schreibt. Die Theorie hier ist, dass der Eckzahn erst verloren geht, wenn der Dauer-Eckzahn ihn von der Länge her eingeholt hat. Da der Dauerzahn eher lingual, also „weiter innen“ im Kiefer wächst, drängt er den Milchzahn bei entsprechender Größe laut Lüps erst dann automatisch aus dem Kiefer.
Eine andere echte Pathologie des Schädels und Gebisses bei Hunden und Katzen ist der ‚Vorbiß‘, wo der Unterkiefer ein wenig länger ist als der Oberkiefer. Bei vielen Welpen, wenn es auftritt, wächst sich das allerdings oft wieder aus (‚happyhunde.de‘, siehe Literatur zum Thema, unten).
Extremer ist es, wenn ein wirklich ausgeprägter Vorbiß bei einigen brachycephalen Hunden als Standard angezüchtet ist, und in diesen Fällen zu einer mangelhaften Gebissfunktion führen kann.
Was genau versteht man unter ‚Brachycephalie‘?
Brachycephalie bedeutet Kurzköpfigkeit bzw. Rundköpfigkeit. Es handelt sich dabei um eine angezüchtete, erbliche Deformation des Schädels, die zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen führt. Unter den Haustieren sind insbesondere Hunde, teilweise auch Katzen betroffen.
Brachycephalie kann zu Problemen in den oberen Atemwegen führen, die zusammenfassend als ‚brachycephales Syndrom‘ bezeichnet werden. Dieses Syndrom ist durch eine starke Behinderung der Atmung und eine gestörte Thermoregulation gekennzeichnet. Letztere führt dazu, daß diese Tiere besonders gefährdet sind, einen Hitzschlag zu erleiden. (https://de.wikipedia.org/wiki/Brachycephalie).
Beispiele von Schädeln von solch gezüchteten Rassehunden zeigt Abb. 11 (a: Pekinese, b: Boxer).
Abb. 12 zeigt eindrücklich, wie sich die Zucht bei Englischen Bulldoggen im Laufe des letzten Jahrhunderts auf die Schädelform dieser Hunde ausgewirkt hat. Die Bundestierärztekammer hat eine Beurteilung und Stellungnahme zu solchen Qualzuchtmerkmalen zusammengestellt, die zeigen, was die Zucht und damit der Mensch als Verursacher bei diesen Hunden angerichtet hat (siehe Literatur zum Thema, unten). Besonders eindrucksvoll erörtert Achim Gruber, Direktor des Instituts für Tierpathologie an der Freien Universität Berlin in seinem 2023 erschienenen Buch „Geschundene Gefährten“ (siehe Literatur zum Thema, unten) „warum wir die höchste Zahl an zuchtbedingten Schädigungen … gerade beim Hund sehen, den wir von allen Tieren (doch) unseren besten Freund nennen“. Er berichtet neben den bereits erwähnten kurznasig gezüchteten Möpsen und Bulldoggen mit Atemnot, von groß gezüchteten Hunden, die nicht mehr richtig laufen können, von Farbverdünnungsvarianten, die nicht selten an unheilbarem Haarausvoll und Hautproblemen leiden, oder von besonders klein gezüchteten Hundezwergen mit Kniescheibenverlagerungen, gestörtem Zahnwechsel oder besonderen Stoffwechselstörungen, die bis zum Tod führen können. Eine Lektüre, die erschreckt, aber sich wirklich lohnt!
Zitieren will ich Jean-Jaques Rousseau (1712-1778), der gesagt hat: ‚Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen; alles entartet unter den Händen des Menschen.‘ Kein weiterer Kommentar…
Danke für Diskussion und Unterstützung an:
Tierärztin Birgit Dumhart aus Untersiebenbrunn, Österreich, für die freundliche Erlaubnis, die Fotos der persistierenden Eckzähne beim Hund vor und nach Extraktion in situ und als CT-Bild zeigen zu dürfen.
Claudia Steinicke, Kuratorin der Meckelschen Sammlung, Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Halle-Wittenberg. Frau Steinicke hat den Kontakt zu AvdL-A hergestellt!
und vor allem Dr. Andreas von der Lippe-Anacker, der die einzelnen Zähne des Gaumens des Präparates der Meckelschen Sammlung in beiden Fällen mühelos und kompetent eindeutig bestimmen konnte. Vielen Dank dafür!!
Abnorme Geweihe
Da kein Pathologe die Geweihe in der Hand hatte, sind die Ursachen nach bestem Wissen mit Hilfe der unten angegebenen Literatur, im Besonderen mit den Büchern von Francois und Scherer, bestimmt worden.
Literatur zum Thema:
Wenn Sie mögen, unterstützen Sie mich dabei, Anomalien unterschiedlicher Reptilien und Säugetiere auf dieser Website darzustellen. Dazu kontaktieren Sie mich doch bitte, wenn Sie Tiere mit Anomalien besitzen oder Ihnen solche pathologischen Erscheinungen auffallen. Schon jetzt vielen Dank dafür!
Kontakt: skulls@fastmail.com